Die Historie der Marke Bentley ist reich an Mythen von tollkühnen Fahrern, heroischen Pisten-Duellen und wundersamen Renn-Erfolgen. Eine der am häufigsten erzählten Geschichten ist die von der „Blue-Train-Wette“. Doch 85 Jahre nach dem Ereignis sieht manches aber anders aus, als es Jahrzehnte lang überliefert wurde.
Zur Legendenbildung reichen manchmal wenige Zutaten. In diesem Falle sind es ein schwerreicher Diamantenhändler und Rennfahrer, ein Schnellzug und eine Idee, die vermutlich durch den reichlichen Genuss von Hochprozentigem befördert wurde. Woolf Barnato, Finanzier und zeitweiliger Vorstandsvorsitzender von Bentley Motors sowie sein Kumpel, der Amateur-Golfer Dale Bourne, wollen den Ruf der Eisenbahn als schnellstes Mittel der Personenbeförderung erschüttern. Der Gegner ist nicht irgendwer: Der „Train Bleu“ verkehrt damals als Schnellzug zwischen Calais am Ärmelkanal und Menton an der Cote d’Azur. „Babe“ Barnato behauptet, dass er mit seinem Speed Six schneller von Cannes nach Calais fahren könnte als der Luxus-Zug.
Die angebliche Wette: Der mehrmalige Le-Mans-Sieger Barnato setzt 200 Pfund Sterling, nach Kaufkraft umgerechnet heute mehr als 10 000 Euro. Am Abend des 13. März wartet der Millionär mit Bourne, der ihn am Steuer ablösen soll, in der Bar des Carlton Hotels in Cannes auf die Nachricht von der Abfahrt des „Train Bleu“. Als diese abends gegen sechs Uhr eintrifft, leeren die beiden noch gelassen ihre Drinks und starten ihren 6 ½-Liter „Speed Six“.
Nachts in der französischen Provinz eine offene Tankstelle zu finden, darauf wollte sich Barnato nicht einlassen. Deshalb hat er dafür gesorgt, dass in Lyon die Zapfsäule einer Werkstatt bis nach Mitternacht besetzt bleibt. Zusätzlich hat er für vier Uhr morgens einen Tanklaster nach Auxerre südlich von Paris bestellt. Aus seiner großen Rennsport-Erfahrung weiß er, gute Vorbereitung ist der halbe Sieg: Es sind noch zusätzliche Benzinkanister im Außenkoffer am Heck untergebracht.
Dumm nur: Mit dem vielen Sprit an Bord ist der Wagen erheblich schwerer geworden und auf den schäbigen Pisten setzt er immer wieder auf, so dass Barnato maximal 130 km/h fahren kann. Die zwei Briten erreichen Lyon eine Minute vor Mitternacht. Doch dann beginnt es stark zu regnen, die Sicht wird schlecht. Mit 20 Minuten Verspätung gegenüber ihrer Planung müssen sie sich obendrein in Auxerre auf die Suche nach dem Tank-Lkw machen, dessen Fahrer ihn in der Stadt parkte und nicht wie verabredet an der Ausfallstraße.
Erst kurz vor Paris lässt der Captain, ermüdet von der schlechten Sicht, endlich den Copiloten für zwei Stunden ans Steuer. Um halb elf Uhr vormittags erreichen sie Boulogne. Rechtzeitig, um als Erste auf das Postschiff nach Folkestone fahren zu können. In England rollt der „Speed Six“ vorneweg vom Schiff und um 15 Uhr 20 parkt „Babe“ den Speed Six vor seinem Club in der St. James Street in London – „exakt vier Minuten, bevor der Zug in den Bahnhof von Calais einfuhr“, heißt es in einem zeitgenössischen Bericht. Die „Wette“ war also gewonnen, das Empire um eine Legende reicher. Zu der übrigens auch gehört, dass Bentley ob der Schmach für die Grande Nation vom Pariser Autosalon im Herbst 1930 ausgeladen wurde.
Will man die Strecke heute mit dem Auto zurücklegen, ist man über gut ausgebaute Autobahnen rund 1200 Kilometer unterwegs. Damals war die Entfernung vermutlich noch länger, statt Autobahnen gab es holperige Schotterpisten. Streckenposten, Fotografen oder sonstige Zeugen, die das Geschehen hätten protokollieren können – Fehlanzeige. Doch es gibt ein Bild. Der Maler Terence Cueno hat es geschaffen und obwohl es ein Fantasieprodukt ist, wird ihm gleichsam dokumentarischer Wert zugemessen.
Die Szenerie verleiht dem Rennen eine Dramatik, die nur wenig mit der Realität zu tun hat. Nicht nur, dass Bentley und Blue Train natürlich nicht auf parallelen Trassen dahin jagten. Das abgebildete Coupé gab zum Zeitpunkt des Rennens noch gar nicht. Tatsächlich unterwegs waren „Babe“ und sein Copilot in einem Speed Six Saloon. Das Coupé wurde vom Bentley Service Department erst im Juni 1930 mit einem Meilenstand von 391 eingetragen, der Wagen war erst Ende Mai registriert worden, konnte also unmöglich im März das Rennen gewonnen haben.
Als zweifelhaft ist auch die Darstellung der Lokomotive anzusehen, wahrscheinlich handelte es sich um einen Typ PLM 241, der zur damaligen Zeit bei der französischen Staatsbahn SNCF in Gebrauch war. Die dargestellte kegelförmige Spitze des Kesselaufbaus gehört aber zum Typ 241 C, der nach übereinstimmender Darstellung von Eisenbahnexperten als Prototyp erst im späteren Verlauf des Jahres 1930 fertig gestellt wurde. Den Beifahrer Dale Bourne hat der Maler gänzlich unterschlagen, obwohl er zum Gewinn des Rennes unverzichtbar war. Dafür hat Cueno in künstlerischer Freiheit etwas anderes eingefügt – eine Maus, die am rechten unteren Bildrand vor dem Speed Six über die Piste fegt. Es war eine bekannte Marotte des 1996 verstobenen Malers, in seinen zahlreichen Gemälden von Brücken, Eisenbahnen und Lokomotiven jeweils eine Maus zu verewigen.
Dass der Zweitürer mit dem nach hinten abgeflachten Dach viel cooler aussieht als die Limousine mit ihrem rechteckigen Aufbau ist unstrittig. Daher rühren wohl auch die verschiedenen Versuche, das Coupé nachträglich und offiziell mit dem Rennsieg zu adeln. Als das Coupé 1984 von Sotheby´s für 270 000 Pfund versteigert worden war, hatte der Auktions-Katalog das Rennen einfach in das Jahr 1931 verlegt. Zum 75. Jahrestag des Ereignisses legte Bentley Motors 2005 ein auf 30 Exemplare limitiertes Sondermodell der Arnage-Limousine auf. Auf den verbreiteten Pressefotos ist es gemeinsam mit einem Speed-Six-Coupé abgebildet.
Schließlich ist nicht einmal mehr sicher, ob es überhaupt eine Wette im eigentlichen Sinne gegeben hat. Barnato selbst hat für die Bentley Drivers Club Review 1946 eine eigene Darstellung abgegeben, wonach eine an der Cote d’Azur erscheinende Zeitung Autofahrer gesucht habe, die 20 Minuten vor dem Train Blue in Calais eintreffen würden. In unerschütterlichem Vertrauen in die Leistungsstärke seines Bentleys behauptete der Captain daraufhin, sogar bis nach London zu kommen, bevor der Zug Calais erreiche. Aber eine Wette sei nicht abgeschlossen worden. Dem steht wiederum die häufig wiederholte Behauptung entgegen, im Carlton-Hotel in Cannes befinde sich eine gerahmte Serviette, auf dem die Abmachung der vermeintlichen Wettbrüder schriftlich fixiert sei.
Ob Wette oder nicht: Das Blue-Train-Rennen ist unverzichtbarer Teil dessen, was besonders für britische Automobilmarken höchst wichtig ist: „Heritage“. Der Amerikaner Bruce McCaw, späterer Besitzer von Barnatos Speed Six, hat dafür gesorgt, dass zumindest ein Teil dieses Erbes heute wieder in einem über jeden Zweifel erhabenen Originalzustand zu bewundern ist: Er ließ die von Mulliner gefertigte Limousinen-Karosserie wieder auf das Fahrgestell montieren, mit dem Woolf Barnato die wilde Jagd gegen den Schnellzug tatsächlich für sich entschieden hat. (ampnet/ab)
Diskussion: http://forum.buschtaxi.org/85-jahre-blue-train-wette-die-legende-lebt-t50396.html
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